Die Integration von ADAS/AD-Funktionen in Fahrzeuge dient einem Ziel: Die Sicherheit aller Verkehrsteilnehmer zu gewährleisten und, soweit möglich, zu erhöhen. Was aber ist bei der Validierung intelligenter Systeme zu beachten? Reicht die Berücksichtigung von Regelwerken, Testszenarien, Sensoren und Funktionen aus, oder spielt auch das dynamische Verhalten des Fahrzeugs eine entscheidende Rolle?

Ein Einblick in die Fahrdynamik

Physikalisch gesehen sind Fahrzeuge mehr als nur eine Punktmasse, und ihr dynamisches Fahrverhalten hat einen besonderen Einfluss auf kritische Fahrsituationen. Ein einfaches Beispiel wäre das Bremsen auf Oberflächen mit unterschiedlichen Reibungskoeffizienten:

Das Fahrzeug gerät ins Schleudern, da ein Drehmoment um seine Hochachse erzeugt wird. Auch wenn Stabilitätssysteme eingreifen, um eine Rotation zu verhindern, müssen die Sicherheitsaspekte immer aus der Sicht der Sensoren bewertet werden. Doch welche Informationen liefern diese, wenn dynamische Fahreffekte die bildgebende Sensorik beeinflussen? Und wie nutzen die Funktionen für ADAS/AD (Advanced Driver Assistance Systems / Autonomous Driving) diese Informationen?

Einblicke durch Simulation

Glücklicherweise müssen wir keine aufwendigen und gefährlichen Manöver auf dem Testgelände durchführen, um das dynamische Verhalten des Fahrzeugs zu untersuchen. Mit nur wenigen Klicks liefern die Simulationen aufschlussreiche Erkenntnisse. Wir wollen ausgewählte relevante Situationen mit der dSPACE Toolsuite Automotive Simulation Models (ASM) in Kombination mit der sensorrealistischen Simulationssoftware AURELION untersuchen.

Fahrdynamiktestszenarien

Notbremsung am Limit

Mit einem Lkw wird eine Vollbremsung im Grenzbereich auf Straßen mit unterschiedlichen Reibwerten, zum Beispiel durch Laub, Nässe oder Schnee, und bei ausgeschaltetem elektronischem Bremssystem (EBS) durchgeführt, um den Einfluss der Fahrzeugdynamik auf das Gesamtsystemverhalten gesondert herauszustellen.

Der Bremsvorgang wird jeweils durch das automatische Notbremssystem (AEB) als Teil eines ADAS auf Basis des erkannten Kollisionsrisikos ausgelöst.

Einblicke aus der Simulation:

  • Vollbremsung bei idealem Reibwert: Der Lkw kommt deutlich vor dem stehenden Hindernis (Bus) zum Stehen. Der Lkw und der Anhänger bleiben auf ihrer eigenen Fahrspur.
  • Vollbremsung mit niedrigerem Reibungskoeffizienten: Viel kritischer ist die Situation, wenn sich durch den geringeren Reibungskoeffizienten der Bremsweg verlängert und sich das Bewegungsverhalten des Lkw-Gespanns völlig verändert. Der Lkw ragt auf die Gegenfahrbahn.

Die Beispiele zeigen, dass eine Notbremsung in der Simulation nur dann realistisch dargestellt werden kann, wenn alle fahrphysikalischen Aspekte berücksichtigt werden (Reibwerte, Verschränkung zwischen Lkw und Anhänger). Und die Funktion des ADAS kann nur dann vollständig bewertet und validiert werden, wenn auch die Auswirkungen der Fahrzeugdynamik berücksichtigt werden. Die Stabilität des Gesamtsystems darf nicht vernachlässigt werden, insbesondere wenn es um Notbremsungen im Grenzbereich der Fahrzeugdynamik geht.

Berücksichtigung des Gesamtnetzes

Darüber hinaus berücksichtigen die ASM-Fahrzeugmodelle auch das Verhalten des Bremssystems, sowohl hydraulisch als auch pneumatisch, und bieten daher die Möglichkeit, ein ADAS/AD-Steuergerät in Verbindung mit anderen Steuergeräten zu testen, zum Beispiel die Interaktion mit einem elektronischen Stabilitätsregler (ESC). Vorteil: Die Leistung des gesamten Systems wird in die Bewertung einbezogen, und die Validierung erfolgt nicht nur für eine einzelne Komponente, sondern für ein ganzes System. Dies bietet dem ADAS/AD-Entwickler erweiterte und differenziertere Möglichkeiten, das Verhalten des Gesamtsystems frühzeitig zu verstehen und ggf. anzupassen.

Neigungswinkel der Fahrerkabine beim Bremsen

Wenn ein Lkw bremst, bewirken die Beschleunigungen in Fahrtrichtung, dass sich die Fahrerkabine aufgrund des Freiheitsgrades zum Fahrgestell hin neigt. Die in der Fahrerkabine installierten Kamerasensoren ändern daher ihren Blickwinkel. Die eingebauten ADAS/AD-Steuergeräte kompensieren diese Sichtveränderung, damit der Abstand zum erkannten Hindernis korrekt berechnet wird.

Um auch die Nickwinkelkompensation in die Simulation einzubeziehen und die Steuergeräte korrekt zu kalibrieren, muss der Nickwinkel den physikalischen Gegebenheiten entsprechen. Dies ist sowohl für die Objekterkennung durch einzelne Sensoren als auch für die nachgeschaltete Sensorfusion unerlässlich. So muss beispielsweise ein in der Kabine installierter Kamerasensor das gleiche Ergebnis bei der Hinderniserkennung erzielen wie der am Boden des Fahrgestells installierte Radarsensor. Andernfalls besteht die Gefahr, dass das gesamte System ausfällt, was schwerwiegende Folgen haben kann.

Je nach Fahrsituation kann ein ursprünglich detektiertes Hindernis teilweise oder sogar ganz aus dem Sichtfeld des Sensors verschwinden, insbesondere bei sehr starken Bremsverzögerungen und einem daraus resultierenden hohen Nickwinkel. Das Verhalten der ADAS/AD-Funktionen in diesen besonders kritischen Situationen muss bekannt und validiert sein.

Die folgenden Abbildungen zeigen, wie dieses Verhalten mit ASM Truck anschaulich dargestellt und in Bezug auf die physikalischen Eigenschaften korrekt in die Simulation integriert werden kann. Die physikalisch basierten Sensormodelle in AURELION erlauben die freie Konfiguration der Sensorposition, insbesondere eine Einbauposition des Kamerasensors in der Kabine mit zusätzlichen Freiheitsgraden:

Spurrillen in der Straßenoberfläche

Eine wichtige Funktion von ADAS/AD-Steuergeräten für Lkw sind aktive Spurhalteassistenten (LKA). Sie müssen nicht nur die Straße richtig erkennen, sondern auch robust gegen äußere Störeinflüsse sein. Eine solche Störung kann zum Beispiel durch die Reifen-Fahrbahn-Kontaktpunkte entstehen, wenn sich das Fahrzeug in einer Spurrille oder Fahrbahnrille befindet und gegenlenken muss.

Spurrinnen führen zu Störgrößen, die die Fahrzeugführung beeinflussen; die gesamte Fahrzeugkombination könnte die Fahrbahn verlassen.

Für eine zuverlässige Validierung des LKA-Systems ist es daher notwendig, solche Störgrößen in einer Closed-Loop-Simulation realistisch abbilden zu können.

Mit dem Simulationsmodell ASM Road können beliebige Straßenoberflächen simuliert und flexibel parametriert werden. Dadurch erhalten Sie eine sehr breite Testabdeckung mit reproduzierbaren Tests, die Sie in echten Testfahrten nicht mehr erreichen können.

Seitenwinde ändern die Fahrtrichtung. Ohne Regeleingriffe kommt das Fahrzeug von der Straße ab.

Berücksichtigung von Seitenwind

Ein weiterer Aspekt, der für Lkw besonders wichtig ist, ist die Berücksichtigung von Seitenwinden bei der automatischen Spurhaltung. In Verbindung mit dem Windschutz werden hohe seitliche Böen erzeugt, die bei Fahrzeugen mit Anhängern und Sattelaufliegern zu Richtungsänderungen und Instabilitäten führen können. Das ADAS/AD-Steuergerät muss diese erkennen und entsprechend reagieren.

Auch hier können Sie mit der ASM-Simulation solche Situationen mit hoher Variabilität nachbilden. Auf diese Weise können Sie bereits in einem frühen Stadium einen hohen Reifegrad der Algorithmen sicherstellen. Nicht zuletzt sind diese Tests auch für die Validierung der Steuergeräte unerlässlich.

Evaluierung und Gesamtüberblick

Durch die Einbeziehung des hochgenauen fahrzeugdynamischen Systemverhaltens ist es möglich, den Einfluss physikalischer Effekte auf ADAS/AD-Systeme zu simulieren und produktiv für die Validierung zu nutzen. Damit leistet die Fahrdynamiksimulation einen wesentlichen Beitrag zur zuverlässigen Entwicklung und Validierung und sorgt für robuste ADAS/AD-Steuergeräte.

Bei tödlichen Folgen in kritischen Fahrsituationen ist oft das Zusammenspiel verschiedener Effekte entscheidend. Genau diese Kombinationen, die in der Realität oft nicht darstellbar sind, werden durch die Simulation ermöglicht. Der Einsatz von realistischen Verkehrs- und Fahrdynamiksimulationen ist die Grundlage für einen effizienten Ansatz bei der Entwicklung von ADAS/AD-Systemen. Neben der Entwicklungseffizienz steigen sowohl die Testtiefe als auch die Testbreite, was wiederum die Qualität der einzelnen Funktionen und damit das Zusammenspiel im Netzwerk verbessert.

Haftungsausschluss:

Alle gezeigten Simulationen wurden mit der dSPACE Multi-Physik-Toolsuite ASM (Automotive Simulation Models) durchgeführt. Die Sensorsimulationen und Animationen wurden mit der High-Fidelity-3D-Software AURELION berechnet und gerendert.

Über den Autor:

Michael Peperhowe

Michael Peperhowe

Lead Product Manager - Simulation, Models and Scenarios, dSPACE GmbH

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