Steigt die Komplexität eines Systems, bedarf es neuer, geeigneter Maßnahmen, um seine Funktion abzusichern. Volkswagen setzt daher intensiver als je zuvor Virtualisierung im Absicherungsprozess ein.
Bei der Markteinführung eines neuen Produkts tragen Automobilhersteller eine große Verantwortung. Deshalb gilt als Unternehmensauftrag bei Volkswagen: Das Endprodukt darf keine Mängel aufweisen. Denn zuverlässige Produkte tragen entscheidend zur Kundenzufriedenheit bei und sind ein bedeutender Faktor für das Markenimage.
Neue Herausforderung für Entwickler und Tools
Selbst bei der Entwicklung einer relativ kleinen Funktion muss immer das gesamte System für den Test betrachtet werden, um eine Aussage über das Verhalten und die Qualität der Funktion sowie ihrer Auswirkung auf das Gesamtsystem machen zu können. Das Feedback vom Gesamtsystem zum Verhalten einer Funktion muss so früh wie möglich verfügbar sein.
Das Dilemma der frühen Absicherung im Gesamtverbund
Doch wie lässt sich eine Funktion testen, während sich viele Systembestandteile noch in der Entwicklung befinden? Der klassische Ansatz be-
stand darin, zunächst Systemkomponenten zu testen, um diese dann Zug um Zug im Zusammenspiel mit anderen Komponenten in immer um-
fassenderen Integrationstests abzusichern.
Während dies für Funktionen herkömmlicher Komplexität noch zielführend war, ist das Vorgehen für Funktionen holistischer Komplexität nicht mehr hinreichend. Denn Fehler in den Komponenten, die sich erst im Zusammenspiel mit anderen im Gesamtsystem bemerkbar machen, sind erst in sehr später Phase in der Entwicklung sichtbar.
Ein neuer Ansatz: Virtualisierung des Gesamtverbundtests
Es bedarf eines neuen Ansatzes. Nennen wir ihn die Virtualisierung von Steuergeräte-Gesamtverbundtests. Die vollständige Virtualisierung – also der Software-in-the-Loop (SIL)-Test – ermöglicht es, alle Artefakte eines Systems unabhängig von ihrem Reifegrad zu integrieren. Dieser frühe SIL-Test liefert zunächst weniger reale Ergebnisse in Bezug auf die Einzelkomponenten, bietet jedoch sofort ein umfassendes Bild über das Verhalten des Gesamtsystems. So kann das Verhalten einer Funktion im Gesamtsystem frühzeitig bewertet und damit die holistische Komplexität während des gesamten Entwicklungsprozesses stets bis zum jeweils maximal möglichen Grad berücksichtigt werden.
Von Beginn an maximale Komplexität dank Virtualisierung
Insbesondere in frühen Phasen ändern sich jedoch die Testobjekte durch Weiterentwicklung. Beim Hardware-in-the-Loop (HIL)-Test waren es die Steuergeräte. Der SIL-Integrationstest erfordert es, die Denkweise zu ändern. Natürlich benötigt man zur vollständigen Validierung die Steuergeräte-Software – hier Virtual ECU (V-ECU) genannt. Aber auch Vorstufen der Software sowie verbindende Elemente spielen initial eine wichtige Rolle. Dazu gehören alle entscheidenden Komponenten wie Spezifikationen, Modelle und Glue Code. Diese Vollständigkeit der Integration schafft insbesondere in frühen Phasen die notwendige Realität. Natürlich bedarf es Regeln und Standards, um Artefakte einheitlich zur Verfügung zu stellen und zu integrieren. Beispielsweise beschreibt der von dSPACE vorgeschlagene V-ECU-Ansatz, wie die Software sowie die weiteren Bestandteile als virtuelles Lieferartefakt parallel oder vorgelagert zu Bereitstellungen der ECU zu verpacken sind.
Multi-Plattform-Simulationen
Dabei ergeben sich völlig neue, spannende Simulationsmöglichkeiten: neben dem klassischen PC-basierten Vorgehen stehen auch containerbasierte Optionen zur Auswahl, zum Beispiel mit Docker zur Bildung von Multiinstanzsimulationen auf PCs bis hin zu hochgradig skalierten Simulationen in der Cloud. In diesen Fällen werden V-ECUs beispielsweise mit Software-Simulationsplattformen wie VEOS ausgeführt.
Agile Entwicklung beschleunigt den Prozess
Das agile Vorgehen fördert eine neue Art der Zusammenarbeit: Schnell entwickeln sich synergetische Ziele über Abteilungen, Bereiche, ja so-
gar Unternehmen hinweg. Hierbei entsteht der Bedarf, frühzeitig Informationen zu teilen. Aus ehemals streng abgegrenzten Zuständigkeitsbereichen entwickeln sich bereichsübergreifende Teams, um gemeinsam und effizient ein übergeordnetes Ziel zu erreichen.
Für dieses agile Vorgehen bedarf es neuer Rollen und Verantwortlichkeiten. Es gibt beispielsweise den Product Owner, er repräsentiert und analysiert die Bedürfnisse des Kunden (OEM). Er ermittelt, welche Funktionen wann benötigt werden. Sein Ziel ist es, den wirtschaftlichen Wert der Unternehmung zu maximieren. Dann gibt es den Scrum-Master. Er begleitet eine koordinatorische Aufgabe und optimiert die Zusammenarbeit aller Beteiligten. Sein Ziel ist es, die Effizienz des Vorgehens zu verbessern. Die Mitglieder des Teams setzen sich aus den benötigten Kompetenzfeldern der beteiligten Unternehmen zusammen. Dazu gehören beispielsweise der OEM, Zulieferer, Werkzeughersteller und Engineering-Dienstleister.
Absicherungsprojekt neu gelebt
In einem aktuell durchgeführten Absicherungsprojekt arbeitet ein agiles Team unternehmensübergreifend mit Volkswagen an der Vision eines virtuellen Gesamtverbunds. Die Absicherung von Funktionen im Gesamtsystem mit allen beteiligten Steuergeräten in einem frühen Stadium der Entwicklung steht dabei im Vordergrund. Umgesetzt wird dies durch einen iterativen Ansatz, bei dem ein zunächst modellbasierter Verbund Schritt für Schritt um eine virtuelle ECU ergänzt wird. Ziel des dSPACE Teams ist es dabei, das Vorhaben zu verwirklichen und Lösungen zu finden, also das Konzept umzusetzen. Das dSPACE Team stellt das DevTeam des agilen Zusammenarbeitsmodells dar. Die Mitarbeiter von dSPACE müssen ihre eigenen sowie andere Werkzeuge im Projekt auf die effizienteste Weise einsetzen. Dies führt zu Werkzeug-Updates entsprechend den Anforderungen, die im Rahmen des Projekts aufkommen.
Win-Win Situation
Die Virtualisierung von Steuergeräte-Verbundtests sowie das kooperative Vorgehen haben Vorteile für alle Beteiligten. Werkzeughersteller und Zulieferer erhalten frühzeitig Informationen und können ihr Angebot auf die Kundenanforderungen abstimmen. Der Kunde – OEM – profitiert durch auf ihn zugeschnittene Lösungen mit höherer Effizienz und letztendlich verbesserter Wirtschaftlichkeit seiner Unternehmungen.
Sie haben einen sehr interessanten Lebenslauf. Wie hat er Sie auf die Herausforderungen in der Automobilindustrie vorbereitet?
Ich bin in China geboren und lebe seit über 20 Jahren in Deutschland. Ich lebe in zwei Kulturen. Und mit Kultur meine ich die Art und Weise, wie wir Dinge und Menschen wahrnehmen. Wie wir Dinge und Menschen verstehen. Wie wir Dinge und Menschen behandeln. Und in der Tat sind viele der Herausforderungen in der Automobilbranche kultureller Natur. Viele Probleme sind nicht wirklich technisch. Deshalb müssen wir die kulturellen Grenzen überwinden.
Was bedeutet das für die Absicherung softwaredefinierter Fahrzeuge?
Softwaredefinierte Fahrzeuge können bis zu einem gewissen Grad virtuell entwickelt und getestet werden. Aber wir müssen uns immer fragen, ob wir dabei die holistische Komplexität berücksichtigt haben. Wir brauchen einen ganzheitlichen Ansatz. Und „ganzheitlich“ steht der herkömmlichen scharfen Trennung von Verantwortlichkeiten, Kompetenzen, Prozessen entgegen. Hier brauchen wir zuallererst einen Kulturwandel.
Wie kommen wir dahin?
Wir müssen enger zusammenarbeiten und ein übergeordnetes, synergetisches Ziel im Auge behalten. In unserer Kultur gibt es zu viel Konkurrenzdenken. Die Chancen auf Gewinn für jeden Beteiligten sind im Wettbewerb zerrieben. Das ist der Grund, warum der Fortschritt so langsam ist. Zum Beispiel nutzen wir nicht das volle Potenzial der Simulation. Wir nutzen wahrscheinlich nur 10 % davon.
Was fehlt noch?
Wir konzentrieren uns bei der Absicherung in der Regel nur auf einzelne Komponenten, weil wir uns strukturell und technisch als einzelne Entwicklungsteams sehen und nicht als die Verkörperung des Gesamtsystems. In Zukunft müssen alle am Entwicklungsprozess Beteiligten, unabhängig in welcher Zeitphase und an welchen Lokalitäten (Abteilungen, Domains), ihren Anteil leisten, um einen Gesamtverbund zu bilden, in dem die Absicherung stattfinden kann.
Was hält Menschen vom synergetischen Zusammenarbeiten ab?
Neben dem Schutz des geistigen Eigentums sehe ich zwei Gründe. Einerseits wollen die meisten bei jeder Aktivität einen direkten Mehrwert für sich sehen. Und andererseits wollen alle aus dem Image-Gedanken heraus nur perfekte Endergebnisse zeigen und teilen ungern Probleme oder Zwischenergebnisse mit Kollegen aus anderen Domänen. Tatsache ist jedoch, dass bei der heutigen Komplexität im Produkt und Prozess ein direkter individueller Mehrwert nur aus einem größeren Mehrwert auf einer übergeordneten Ebene abzuleiten ist, die erst hergestellt werden muss – durch Beteiligung von allen. Ein Kuchen kann erst verteilt werden, nachdem der gesamte Kuchen gebacken ist. Ein Vertrauensvorschuss muss sozusagen von allen geleistet werden. Und der Image-Gedanke hindert uns daran, das wertvolle Zeitfenster zu nutzen, wo Probleme im Keim entdeckt und beseitigt werden können und der Erfolg für alle gesichert werden kann.
Über den Interviewten:
Dr. Chen Ma
Dr. Chen Ma verantwortete als Product Owner die Virtualisierung Gesamtverbundtest und ist jetzt E/E-Projektmanager bei der Volkswagen AG in Wolfsburg.