Die Integration sicherer elektronischer Systeme definiert den Leistungsbereich der Bugatti-Fahrzeuge. Eine besonders zuverlässige Systemfunktion wird mit einem Simulator von dSPACE erreicht.
Bugatti verdankt seinen unverkennbaren Charakter einer Familie von Künstlern und Ingenieuren und strebt seit jeher das Außergewöhnliche, das Beste, die Superlative an. Jedes Element im neuen Bugatti Chiron ist eine Kombination aus Reminiszenz an die Markengeschichte und innovativer Technologie. Das Resultat sind Kreationen von bleibendem Wert und automobile Meisterstücke. Das Herzstück des Chiron ist sein vierfach turboaufgeladener 8-Liter-W16-Motor. Dieses außergewöhnliche Meisterwerk erzeugt unglaubliche 1.500 PS und 1.600 Nm Drehmoment bei einer nahezu linearen Leistungsabgabe zwischen 2.000 und 6.000 U/min. Vier Hochleistungsturbolader arbeiten in einer zweistufig gesteuerten Konfiguration und definieren diesen Champion der Leistung.
Herausforderung: Höchste Zuverlässigkeit
Um dem Fahrer diese Leistung unter allen Bedingungen zuverlässig und sicher zur Verfügung zu stellen, sind viele elektrische Systeme und aufwendige elektronische Steuerungen erforderlich. Die effiziente Absicherung der Steuereinheiten ist eine Kernaufgabe in der Fahrzeugentwicklung. Hierbei müssen insbesondere Tests in Grenzbereichen durchgeführt werden, um sicherzustellen, dass das Fahrzeug immer beherrschbar bleibt. Für bestmögliche Entwicklungseffizienz ist es ebenfalls erforderlich, dass neue Steuergeräte und Software-Stände auch schon dann getestet werden können, wenn die Regelstrecken bzw. das gesamte Fahrzeug noch nicht oder gerade nicht zur Verfügung stehen.
Lösungsansatz: Effiziente Fahrzeugsimulation
Bei Bugatti ist der Steuergerätetest per Hardware-in-the-Loop (HIL)-Simulation eine etablierte Vorgehensweise. Für das neue Fahrzeugmodell Chiron galt es, eine optimierte Absicherungslösung aufzubauen, die neue Leistungsdimensionen ermöglicht und für die Modellvarianten des Chiron sowie für zukünftige Fahrzeuge einfach erweitert werden kann. Konkret ging es darum, den gesamten Antriebsstrang unter Berücksichtigung der Fahrdynamik detailliert zu simulieren, um die an den Simulator angeschlossenen Steuergeräte für Motor, Getriebe und Fahrdynamik zu testen.
Evaluierung einer Simulationsplattform
Nach Evaluierung verschiedener kommerzieller Simulationsmodelle und Simulatoren entschied sich Bugatti für eine maßgeschneiderte Simula-tionslösung von dSPACE. Diese besteht aus einem HIL-Simulator sowie detaillierten Simulationsmodellen, die das Fahrzeug inklusive aller Komponenten abbilden. Dies wird mit den mathematischen Modellen der Toolsuite Automotive Simulation Models (ASM) realisiert. Das Fahrzeug und der Antriebsstrang konnten mit folgenden Modellen exakt virtualisiert werden:
- W16-Motor: ASM Gasoline Engine
- 7-Gang-Doppelkupplungsgetriebe (DSG): ASM Drivetrain
- Chassis und Fahrdynamik: ASM Vehicle Dynamics
Vorgehen bei Aufbau und Parametrierung des Simulators und der Modelle
Planung und Aufbau des Simulators sowie Erstellung des I/O-Modells als Interface zwischen den realen Steuergeräten und den virtualisierten Fahrzeugen erfolgten auf Basis von Informationen über das Elektrik/Elektronik-System und die Steuergeräte sowie auf Grundlage der Spezifikationen von Motor und Getriebe. Daraus wurden eine Modellstruktur abgeleitet und Anforderungen für die Parametrierung festgelegt. Die Genauigkeit der Parameter ist ein Maß für die Simulationsgüte; sie werden beispielsweise aus Konstruktionsdaten erfasst sowie durch Messungen ermittelt. Durch Prüfstandmessungen gelang es, fein aufgelöste Kennfelder für die Parametrierung zu erstellen. Die Parametrierung wird anschließend mit den Soft-ECUs aus der ASM-Bibliothek validiert. Darauf folgt ein weiterer Validierungsschritt, der das I/O-Modell und das reale Steuergerät einbezieht. Auf dieser Grundlage erfolgt die Inbetriebnahme, bei der auch die Simulationsergebnisse mit gemessenen Referenzwerten verglichen werden. Hierbei arbeiten Experten von Bugatti und dSPACE intensiv zusammen.
Entwicklungs- und Testaufgaben am Simulator
Der HIL-Simulator wird bei Bugatti für verschiedene Testaufgaben eingesetzt. Dazu gehören beispielsweise klassische Freigabetests neuer Software-Stände. Dazu wird das Steuergerät mit der neuen Software einem Testdurchlauf am HIL-Simulator unterzogen und erst nach bestandenem Test ins reale Serienfahrzeug übernommen. Beispielsweise werden für Prüfungen der Motor- und Getriebesoftware OBD-Tests (OBD: On-Board-Diagnose) in bestimmten Geschwindigkeits- und Lastbereichen mit dem Simulator durchgeführt. Dabei handelt es sich um herstellerübergreifende, standardisierte Tests, die kontinuierlich während des Fahrzeugbetriebs erfolgen. Ein korrektes Fehlerverhalten mit entsprechenden Ersatzreaktionen und die richtige Fehlerausgabe im Fehlerspeicher des Steuergerätes werden damit überprüft. Während die Fahrzeuge rund um die Welt erprobt werden, entstehen weitere Testaufgaben für den HIL-Simulator: Er wird genutzt, um Fehler nachzustellen, die während der Erprobung gefunden wurden. Dazu wird auch virtuell dieselbe Strecke, beispielsweise der Kurs des Ehra-Lessien-Testgeländes bei Wolfsburg gefahren. Darüber hinaus spielt der Simulator gerade bei Funktionstests seine besonderen Stärken aus. So lassen sich beispielsweise das Fahrverhalten beeinflussende Ersatzreaktionen auch bei Geschwindigkeiten über 400 km/h gefahrlos untersuchen. Weitere wichtige Funktionstests liegen im Bereich der Regelstrategien bei Übertemperatur, Zündaussetzern oder ähnlichen Vorfällen. Auch bei Entwicklungsaufgaben kann der Simulator unterstützen. Die vielfältigen elektronischen Systeme, beispielweise zur Heckflügelverstellung, aktiven Aerodynamik und Niveauregulierung, können in frühen Phasen geprüft und im Zusammenspiel optimiert werden.
Qualitätssteigerung durch Testautomatisierung
Um Tests zu jeder Zeit auszuführen, auch 24 Stunden am Tag und 7 Tage in der Woche, wird die dSPACE Test-Authoring- und Testautomatisierungssoftware AutomationDesk eingesetzt. AutomationDesk verfügt über Bibliotheken mit einer Auswahl vordefinierter Testschritte, zum Beispiel für den Zugriff auf das Simulationsmodell, auf eine FIU (Failure Insertion Unit) oder auf die Applikations- und Diagnose-Software. Dies erlaubt den Entwicklern, die Testdurchführung zu automatisieren, um damit die Testabdeckung sowie die Qualität der Steuergeräte-Software zu erhöhen, bei gleichzeitiger Einsparung von Zeit und Kosten.
Bewertung der Testlösung
Aufgrund der reproduzierbaren Simulationen konnte der dSPACE Simulator wesentlich zur Vorbereitung des Geschwindigkeitsweltrekords des Bugatti Chiron Super Sport 300+ beitragen. Per Simulation ließ sich das Verhalten des Fahrzeugs im Grenzbereich detailliert untersuchen und mit den gewonnenen Erkenntnissen die Entwicklung frühzeitig gezielt steuern. Relevante Komponenten aus dem Antriebsstrang-, Chassis- und Body-Bereich werden mit den Simulationsmodellen von ASM in Echtzeit abgebildet. Dazu gehören der W-Motor mit beiden Bänken inklusive Turbolader und variabler Ventilsteuerung sowie Doppelkupplungsgetriebe (DSG), Haldex-Kupplung für den Allradantrieb bis hin zu aktiven Dämpfern, Differentialsperre und adaptivem Heckspoiler. Auch die Positionsverstellung von Schaltmuffen, die Drehzahl-Synchronisation zwischen allen Wellen bei der Gangschaltung, die Gang-Vorwahl sowie die Positionsregelung von Kupplungen und Kupplungsadaption können zusammen mit dem ASM-DCT-Modell getestet werden. Der Test von Diagnosefunktionen und eine umfassende Ergebnisanalyse gehören zum Testrepertoire. Darüber hinaus lässt sich der Simulator flexibel erweitern. Beispielsweise konnte eine Ionenstrommessung schnell integriert werden. Dazu trug auch der enge Kontakt zwischen den Verantwortlichen bei dSPACE und Bugatti bei.
Resümee
Bei einem Kleinserienhersteller wie Bugatti lassen sich Investitionen für Werkzeuge nicht einfach auf große Stückzahlen umlegen. Dennoch lohnt sich der Einsatz eines HIL-Systems aus zwei Gründen:
- Bugatti kann für seine Fahrzeuge auch eine entsprechende Qualität sicherstellen. Und das insbesondere in den vielfältigen Grenzbereichen von Fahrzeugen dieser Leistungsklasse.
- Die Verlagerung von Entwicklungsaufgaben auf den HIL-Simulator ist als Ergänzung durchaus sinnvoll. Die Entwicklung lässt sich dadurch effizienter gestalten. Beispielsweise können Versuche am Fahrzeug und Prüfstand reduziert werden.