Virtuelle Tests so realitätsnah zu gestalten, dass sie sich von realen Vorgängen nicht unterscheiden, ist eine der größten Herausforderungen bei der Absicherung der Fahrzeugelektronik. Hyundai MOBIS ist es gelungen, mit Hilfe der dSPACE Werkzeugkette eine Testmethodik zu implementieren, die reale und virtuelle Tests vereint und dadurch neue Möglichkeiten schafft.
Der Markt für Fahrerassistenzsysteme (ADAS) und autono-mes Fahren (AD) verzeichnet ein starkes dynamisches Wachstum. Immer komplexere Fahrfunktionen, die Fahrer unterstützen oder automatisiertes Fahren ermöglichen, werden implementiert. Um geeignete Steuergeräte-Prototypen zu bauen und zu validieren, benötigen die Entwickler detaillierte und gleichzeitig vielseitige Entwicklungsmethoden. Dabei hat sich ein Prozess als erfolgreich erwiesen, der auf den Simulations- und Ab-
sicherungsmethoden Model-in-the-Loop (MIL), Software-in-the-Loop (SIL) und Hardware-in-the-Loop (HIL) basiert. Aufgrund der Komplexität der Steuerungssysteme und des engen Zusammenspiels verschiedener Steuergeräte und Aktuatoren können in bestimmten Bereichen exakte Aussagen zur Qualität und Sicherheit nur mit realen Testfahrten getroffen werden. Realfahrten sind jedoch für die Absicherung von ADAS/AD-Funktionen nur bedingt geeignet, da sich viele der durchzuführenden Testfälle aufgrund des hohen Kollisionsrisikos in der Realität nicht umsetzen lassen. Neue Testmethoden sind erforderlich, die für solche Fälle hinreichend effizient, wirtschaftlich und sicherheitsorientiert sind.
Testen mit erweiterter Realität
Wünschenswert ist eine Vorgehensweise, die die Realitätsnähe und Integrationstiefe von realen Testfahrten mit den flexiblen, nahezu unlimitierten Möglichkeiten des HIL-Verfahrens kombiniert – also eine Verbindung von realer und virtueller Welt. Diese Verbindung wird, bezogen auf visuelles Erfassen, oft als Augmented Reality oder Mixed Reality bezeichnet. Auch beim Testen von ADAS/AD-Funktionen spielt das Erfassen eine entscheidende Rolle. Da die Funktionen ihre Eingangssignale von den Radar-, Lidar- und Kamerasensoren erhalten, liegt es nahe, die erweiterten Testmöglichkeiten über die Sensoren herbeizuführen. Konkret: Der Sensor erfasst eine virtuelle Welt und steuert dadurch ein reales Fahrzeug. Damit ist es beispielsweise möglich, ein Fahrzeug in der realen Welt mit hoher Geschwindigkeit zu fahren und gleichzeitig in der virtuellen Welt ein Kind über dieselbe Fahrbahn laufen zu lassen. Das virtuell erfasste Objekt wird dann von der ADAS/AD-Funktion ausgewertet und führt zu einer Aktion im realen Fahrzeug. Diesen Ansatz hat Hyundai MOBIS aufgegriffen und zusammen mit Experten von dSPACE und des in Korea ansässigen dSPACE Distributors Hancom MDS Inc. implementiert.
Implementierung der Testumgebung
Der Testaufbau besteht aus einem dSPACE Echtzeitsystem in Form einer AutoBox, die sich im Kofferraum des Testfahrzeugs befindet. Auf dem Echtzeitsystem wird eine komplexe Umgebungssimulation mit Fahrzeugen, Fußgängern, Verkehrszeichen, Straßenmarkierungen, Randbebauung etc. ausgeführt. Diese virtuelle Welt wird den ADAS/AD-Steuergeräten statt der realen Sensordaten zur Verfügung gestellt. Um dies zu realisieren, fährt in der virtuellen Welt ein Ego-Fahrzeug, das quasi als digitaler Klon des realen Testfahrzeugs agiert. Es ist mit den gleichen Sensoren wie das Testfahrzeug ausgestattet. Die Simulation wurde mit der Toolsuite ASM (Automotive Simulation Models) erstellt. In ASM sind Sensormodelle enthalten, mit denen man Radar-, Lidar- und Kamerasensoren in der Simulation abbilden kann. ASM ermöglicht es ebenfalls, beliebig viele Umgebungsfahrzeuge, kreuzenden Verkehr, sich frei bewegende Fußgänger etc. zu definieren und in Echtzeit zu simulieren. Die Simulation ist über eine IMU (Inertial Measurement Unit) und ein GNSS (Global Navigation Satellite System) mit dem realen Fahrzeug synchronisiert, so dass Längs- und Quermanöver aus der realen in die virtuelle Welt übertragen werden. Dadurch wird ein geschlossener Regelkreis realisiert und die Testmethodik kann als Vehicle-in-the-Loop (VIL) bezeichnet werden.
Fahrzeugtests mit VIL
Die VIL-Tests werden auf dem Hyundai MOBIS Seosan Proving Ground, einem Testgelände mit großen Freiflächen, durchgeführt. Im Fahrzeug befinden sich der Fahrer, ein Beifahrer und im Kofferraum die AutoBox. Während der Fahrt initiiert der Beifahrer Testszenarien, deren virtuelle Sensordaten in die realen Sensoren bzw. das ADAS/AD-Steuergerät eingespeist werden. Solche Szenarien sind beispielsweise Hindernisse, kreuzender Verkehr oder Fußgänger, die auf die Straße laufen. Also alle Szenarien, die sich in der realen Welt nicht vollständig testen lassen, weil das Kollisionsrisiko zu hoch ist oder weil sogar das Verhalten bei einer Kollision (Crash-Punkt, Crash-Ge-schwindigkeit) untersucht werden soll. Als Testfälle kommen sowohl standardisierte Tests wie nach EuroNCAP zum Einsatz als auch dedizierte Tests zur Absicherung spezieller Funktionen. Dazu gehören beispielsweise Szenarien für AEB (Autonomous Emergency Braking) und LSS (Lane Support System), um die verbauten ADAS zu testen. Da bei Hyundai MOBIS schon mehrere dSPACE HIL-Systeme für die Absicherung von ADAS im Labor verwendet werden, können die dafür entwickelten Tests dank der durchgängigen dSPACE Werkzeugkette einfach für die VIL-Absicherung im Fahrzeug übernommen werden.
Das Equipment für die Echtzeitsimulation der virtuellen Fahrzeugumgebung ist im Kofferraum installiert: Mit der AutoBox (rechts im Bild) werden Verkehrsszenarien simuliert und dann in die realen Sensoren des Fahrzeugs eingespeist.
Innovation und Bewertung der VIL-Methodik
Die VIL-Testmethodik ermöglicht es, die Vorteile realer Testfahrten und virtueller Tests zu vereinen, mit dem Ziel, ADAS/AD-Funktionen besonders realitätsnah zu testen und abzusichern. Mit VIL lassen sich Testtiefe und -umfang gegenüber herkömmlichen Testfahrten deutlich erhöhen. Dadurch reduziert sich der Testaufwand bei vergleichbaren realen Tests (mit Dummies, weiteren echten Fahrzeugen etc.). VIL-Tests lassen sich auf eine Kombination von Seriensteuergeräten und Steuergeräte-Prototypen anwenden. Die – möglicherweise nur bedingt realitätsgetreue – Modellierung der Restbussimulation entfällt vollständig, stattdessen geht das reale Verhalten von Drittanbieter-Steuergeräten in die Tests ein. Hoher Reifegrad und Realitätsnähe der Tests führen zu immer exakteren Ergebnissen, da beispielsweise die tatsächlichen Latenzen das Systemverhalten bestimmen. Durch die Wiederverwendbarkeit von Testfällen aus den Bereichen MIL, SIL und HIL entsteht eine zusätzliche, effiziente Validierungsmethodik, die sich nahtlos und durchgängig in den etablierten Entwicklungsprozess einfügt. Nicht zuletzt bietet VIL alle Vorteile einer einfachen, exakten und beliebig reproduzierbaren Testausführung. Zusammenfassend lässt sich feststellen, dass die VIL-Methodik bekannte HIL-Vorteile um fahrzeugspezifisches Verhalten ergänzt und zu neuen, besonders realitätsnahen Absicherungsmöglichkeiten für ADAS/AD-Steuergeräte führt.
Über den Autor
Teaseung Kim
Teaseung Kim ist verantwortlich für die Entwicklung der Tests von autonomen Fahrzeugen bei Hyundai MOBIS in Yongin-Shi, Südkorea.